Semra Ertan

Semra Ertan war eine Schriftstellerin und Arbeitsmigrantin. 1956 in der Küstengroßstadt Mersin/Türkei geboren, kam sie 1972 mit 15 Jahren nach Deutschland, zwei Jahre später als ihre Eltern. Weil ihr ihre schulische Ausbildung nicht anerkannt wurden, konnte sie nicht studieren. Stattdessen war sie als ehrenamtliche Dolmetscherin für andere ‚Gastarbeiter:innen‘ tätig, arbeitete in verschiedenen Betrieben, war politisch aktiv und begann mit 19 Jahren als Schriftstellerin die Erlebnisse, die sie in Deutschland sammelte, zu verarbeiten. Semra Ertan starb mit 25 Jahren in Hamburg. Sie verbrannte sich öffentlich aus Protest gegen Rassismus, Ausländerfeindlichkeit und Antifeminismus und starb an den Folgen der Verbrennungen zwei Tage später. Kurz zuvor hatte sie dem NDR und dem ZDF ein Gedicht vorgetragen und ihre Absichten mit den Worten erklärt, „ich möchte, dass Ausländer nicht nur das Recht haben, wie Menschen zu leben, sondern auch das Recht haben, wie Menschen behandelt zu werden. Das ist alles.“ Sie hinterließ über 350 Prosatexte, und für das postum erschienene frühe Werk Mein Name ist Ausländer / Benim adım yabançı wurde ihr in 2021 eine außerordentliche Alfred-Döplin-Medaille zuerkannt.

Der öffentliche Selbstmord von Semra Ertan fand in einem Kontext einer hohen ‘Ausländerfeindlichkeit’ der Gesamtbevölkerung und rechtsradikaler Gewalttaten statt; nicht zu erwähnen sind strukturelle Diskriminierung und Alltagsrassismen. Entsprechende Bürgerinitiativen sowie politische Gruppieren fanden großen Zulauf. Kurz vor ihrem Tod hatte Bundeskanzler Helmut Schmitt zur Debatte des ‚Ausländerproblems‘ mit den Worten beigetragen, dass Ausländer sich entweder einbürgern oder zurückkehren sollen. Während sich in 1978 noch 39% der Deutschen die Rückkehr von Ausländern in ihre Heimatländer befürworteten, waren 1982 bereits 68% dieser Ansicht – ein politisches Klima, dass sich mit der Ölkrise von 1982 so verschärfte, dass Ausländer als Konkurrenten auf dem Arbeits- und Wohnungsmarkt betrachtet wurden. Zudem konnten Ausländer nicht ihren Berufswunsch erlernen, sondern es wurde ihnen nach ethnisch-rassistischen Motiven zumeist Hilfsarbeiterjobs zugewiesen. Außerdem gab es keine Schulpflicht für ausländische Kinder oder sie kamen in spezielle ‚Ausländerklassen‘. Was Ertan nicht mehr erlebte, war die weitere Eskalation von sogenannten fremdenfeindlichen aber eigentlich rassistischen Übergriffen wie Mölln (1992) oder Solingen (1993). Ertan aber wollte bereits 1982 auf diese drastische Weise die Öffentlichkeit adressieren, um ihre Stimme hörbar zu machen, die bis dahin niemand hören wollte.

Nach ihrer Tat protestierten viele türkischsprachige Zeitungen gegen die grassierende Ausländerfeindlichkeit, für mehr menschenwürdige Behandlung und Gleichbehandlung der ca. 1,5 Millionen Türk*innen in Deutschland. In der türkischen community, insbesondere in Hamburg, aber auch in den Schulbüchern in der Türkei war Semra Ertans Namen bekannt. In Deutschland gab es zwar antirassistische Demonstrationen, jedoch klang das Bewusstsein für Semra schon sehr bald ab. Einige Wochen nach dem Selbstmord erschien ein Beitrag im Fernsehmagazin Monitor mit dem Titel „Tod einer Türkin“ – ohne ihren Namen im Titel zu nennen. Ein halbes Jahr nach Semra zündete sich Hasan Fikri Koşan in St. Pauli aus Protest an. Der investigative Journalist Günther Wallraff widmete u.a. Semra Ertan sein Buch „Ganz unten“, das 1985 erschienen war, jedoch war hier auch der Name falsch geschrieben.

Erst im Jahr 2018 setzte mit der Initiative in Gedenken an Semra Ertan die Erinnerung an Semra durch ihre Nichte mit Gedenkveranstaltungen und Forderungen nach einer Gedenktafel und/ oder einer Umbenennung eines öffentlichen Raums wie eine Straße oder ein Platz ein. Mit der Buchveröffentlichung im Jahr 2020 verstärkte sich dieser Wunsch nach einem Ort des Gedenkens.

Diese Initiative ist eine von vielen Erinnerungs- und Gedenkinitiativen, die den Blick auf die zahlreichen rassistischen Übergriffe lenken. Doch nicht nur soll dabei an die Opfer gedacht werden, sondern auch an Ausgrenzung, Ablehnung, Diskriminierung und Gewalt in der demokratischen Bundesrepublik Deutschland. Dass die Praxis des Gedenkens auch politisch und zu hinterfragen ist, in dem jemand bestimmt, an wen erinnert wird, wer eingeladen wird und was dabei beachtet wird, drückt auch der Offene Brief der Initiative an Bundesregierung zur „Gedenkstunde für die Oper terroristischer Gewalt“ vom März 2023 aus. Die Initiative ist mittlerweile ein Teil des Netzwerks von Angehörigen von Opfern und Überlebenden des rechten Terrors.

von Tülay Günes